„Neue Gentechnik“ Dossier in Brüssel vorerst gescheitert – Ruf nach „Nachdenkpause“ und fundierter Debatte wird laut
Bis zur letzten Minute, wenige Tage vor Ablauf der belgischen Ratspräsidentschaft, versuchten die Belgier, eine Einigung der Mitgliedsstaaten beim umstrittenen Gesetzesvorschlag für Neue Gentechnik voranzutreiben. Manche kritische Staaten – allen voran Polen, die konsequent gegen eine Patentierung von NGT auftreten – waren Ziel massivster Lobbybemühungen; selbst die USA haben sich eingemischt und Polen zur Meinungsänderung gedrängt.
„Nachdenkpause“ mit fundierter Diskussion zu den vielen ungelösten Fragen gefordert
Das Scheitern, im Rat der 27 eine einheitliche Position herbeizuführen, muss jetzt für eine „Nachdenkpause“ und eine deutlich tiefer gehende Diskussion speziell der kritischen Aspekte wie Mangel an Transparenz, Fehlen von Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit und Fehlen jeglicher Lösung für Koexistenz, Patente und Haftung genützt werden.
„Wir sind sehr froh darüber, dass der Versuch der belgischen Ratspräsidentschaft, im Ruck-Zuck Verfahren kurz vor der Sommerpause noch den nach wie vor mehr als unausgegorenen Gesetzesvorschlag zur weitgehenden Deregulierung der Neuen Gentechnik durchzudrücken, klar gescheitert ist“, erklärt Florian Faber, Geschäftsführer der ARGE Gentechnik-frei. „Viel zu viele Fragen sind offen! So zum Beispiel bei der Haftung: Welche Unternehmen haften, wenn nicht gekennzeichnete NGTs ihren Weg die Lebensmittel-Wertschöpfungskette finden und dort Probleme verursachen? Wie soll die Koexistenz gesichert werden, da es dazu keinerlei Vorgaben gibt? Wie kann verhindert werden, dass der Gesetzesvorschlag – wie bereits von zahlreichen Rechtsexperten belegt – gegen europäisches und internationales Recht wie z.B. Vorsorgeprinzip, Subsidiaritätsprinzip und Cartagena Protokoll verstößt?“
Stärker werdende wissenschaftliche Kritik am vorliegenden Vorschlag
Mit dem vorläufigen Scheitern des derzeitigen Vorschlags muss jetzt die Bremse gezogen und das wissenschaftlich und fachlich unausgegorene Dossier gründlich überarbeitet werden. Dies bestätigt auch die zahlreicher werdende Kritik aus der Wissenschaft:
- So kritisiert das deutsche Bundesamt für Naturschutz (BfN) in einer aktuellen Studie der Gesetzesvorschlag verstoße gegen das in der EU geltende Vorsorgeprinzip.
- Die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit (ANSES) kommt in ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme zum Annex 1 zum Schluss, dass die im Gesetzesvorschlag vorgesehene prüfungsfreie Obergrenze von 20 veränderbaren Zielregionen wissenschaftlich unzureichend begründet sei. Es gebe keinerlei wissenschaftliche Begründung für die Annahme, NGT-Pflanzen der Kategorie 1 würden das gleiche Risiko aufweisen wie herkömmlich gezüchtete Pflanzen.
- In einem weiteren umfangreichen Gutachten kommt die ANSES zum Schluss, dass bei NGT-Pflanzen relevante Risiken aufweisen können. ANSES empfiehlt, die Gesundheits- und Umweltrisiken jeder neuen NGT-Pflanze individuell zu prüfen und einen Monitoringplan sowie bei einer Zulassung die Verpflichtung einer Nachweismethode vorzuschreiben.
- Die Gesellschaft für Ökologie in Deutschland, Österreich und der Schweiz (GfÖ) weist in einer Stellungnahme im Zusammenhang mit der von der EU-Kommission geplanten Deregulierung insbesondere auf Gefahren für Wildpflanzen hin.
- Die Fachstelle Gentechnik und Umwelt (FGU) kommt in einer Auswertung von rund 50 wissenschaftlichen Arbeiten zu NGT-Pflanzen zu dem Ergebnis, dass auch kleine Eingriffe in das Pflanzen-Genom die Gehirnfunktionen und die Fortpflanzungsfähigkeit bestäubender Insekten schädigen können.
Nach dem Sommer ist eine deutlich differenziertere Debatte gefragt!
Am 1. Juli 2024 übernimmt das traditionell Gentechnik-kritische Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft, im ersten Halbjahr 2025 folgen die ebenfalls kritischen Polen. Das Thema dürfte damit nach der Sommerpause unter neuen Vorzeichen weiter beraten werden. In Vorgesprächen gaben Vertreter:innen Ungarns bereits an, die Debatte speziell unter stärkerer Berücksichtigung der vielfältigen offenen Fragen und kritischen Punkte weiterzuführen. Auch die Schlüsselthemen der Rechtskonformität, der Transparenz, Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit, Haftung, Patente und Koexistenz sollen unter ungarischem Vorsitz im Rat der 27 fundiert debattiert werden.
„Es ist nur vernünftig, die Debatte im Herbst in aller Gründlichkeit fortzusetzen und zumindest in Teilen neu aufzurollen. Die Bedenken von „Ohne Gentechnik“ und Bio in Sachen Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Koexistenz müssen unbedingt berücksichtigt werden, genauso wie die ungeklärten Fragen zu Patenten und Risiken für Umwelt und Gesundheit“, so die klare Perspektive von Florian Faber.
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